Leben in einer ver-rückten Welt
“In der Spur des Herzens. Leben in einer ver-rückten Welt.” Das war die Überschrift unserer heurigen Exerzitien im Alltag, an denen eine Gruppe von Frauen teilnimmt. Mich hat dieses Motto sehr angesprochen, leben wir doch tatsächlich in einer Welt, in der ich vieles als ver-rückt empfinde. Diese Welt ist ein Dorf geworden, und so erreichen uns täglich Schreckensnachrichten von überall her. Nach den furchtbaren Ereignissen am 7. Oktober in Israel haben wir uns im Dezember gefragt, wie wir Weihnachten feiern können - in Betlehem war es 2023 abgesagt. Drei Monate später gibt es keine positiven Entwicklungen, aber ähnlich wie beim Krieg gegen die Ukraine ist ein gewisser Gewöhnungseffekt eingetreten. Noch viel mehr Ver-rücktes spielt sich im Großen und im Kleinen rund um uns ab. Meine Reaktion darauf ist unterschiedlich: zwischen Wut und Ohnmacht spüre ich den Wunsch, solidarisch zu sein und pendle zwischen Hoffnung und Resignation.
Heute, am Karfreitag, gedenken wir des Leidens und Sterbens Jesu. Für seine Jünger*innen ist eine Welt zusammengebrochen, sie konnten nicht verstehen, was da passiert und vor allem warum. Ich kann nicht behaupten, dass ich es verstehen kann. Dieser Tod Jesu am Kreuz bleibt für mich unfassbar. Die biblischen Lesungen beantworten uns nicht die Frage nach dem Warum, aber sie schenken uns die Hoffnung und Zuversicht, dass Gott uns im Leid nicht allein lässt. In manchen dunklen Stunden spüre ich davon nichts, dann ist es nur dieser Glaube, an dem ich festhalte, der mich nicht vor der Verzweiflung bewahrt, aber mich hindurchführt.
In der Karfreitagsliturgie werden wir anschließend auch etwas Ver-rücktes tun. Wir werden das Kreuz verehren. Mit dieser Geste der Ehrfurcht verherrlichen wir nicht das Kreuz als Folterinstrument, sondern Jesus, den Gekreuzigten. Nicht das Leiden steht im Mittelpunkt, sondern der Leidende. Jesus mit seinen schrecklichen Wunden, die auch nach seiner Auferstehung als sichtbares Zeichen seiner Liebe nicht einfach weg sind. Er ist das Bild für alle Menschen, die heute leiden, die gefoltert und ermordet werden und die fragen: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”
Wir können das Leid nicht ausblenden, es ist Teil unseres Lebens. Deshalb enthüllen wir am Karfreitag das Kreuz. Wir schauen hin, wir besingen das Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen.
Der Kreuzestod Jesu gibt uns keine Antwort auf Warum-Fragen. Vielleicht finden wir aber zu einer Wozu-Antwort: Verbinden wir die vielen Kreuze, die Menschen heute tragen, mit seinem. Schauen wir nicht weg, wenn in meiner Umgebung Leidvolles geschieht. Laufen wir nicht weg, bleiben wir unter diesem Kreuz, öffnen wir unser Herz, entdecken wir die Spuren Gottes überall dort, wo wir ihn besonders vermissen. Amen.